Stefan Zweig Autobiographie. Informationen von Elke Rehder
Eine von Stefan Zweig geschriebene Autobiographie wurde 1922 veröffentlicht. Zweig beschreibt stichwortartig sein Leben der ersten 23 Jahre. Die "Autobiographie des Dichters" erschien in der von Hanns Martin Elster herausgegebenen Faksimileausgabe der Novelle "Der Brief einer Unbekannten" in der Reihe "Deutsche Dichterhandschriften".
Stefan Zweig 1885 im Alter von 4 Jahren in Wien © arquivo Casa Stefan Zweig
Ich bin, schreibt Stefan Zweig, am 28. November 1881 in Wien geboren und dort
zur Schule gegangen; schon im Gymnasium war nicht nur mir allein, sondern einer
ganzen Gruppe künstlerische Betätigung das uneingestandene Ziel und Kunstgenuss
die gemeinsame Leidenschaft. Wir bildeten gleichsam die letzte Generation jenes
heute fast nicht mehr rekonstruierbaren Kunstfanatismus, der diese alte Theater-
und Komödiantenstadt von je auszeichnete: knapp hinter uns verwandelte sich bei
den Jüngeren diese Leidenschaft in Sport, Training, sie sind kräftiger,
tüchtiger geworden als wir, aber ich beneide sie darum nicht. Und als ob dieser
Abschied von der Kunst symbolisch sein sollte: gerade in jenen, unsern
Studienjahren raffte Wien in den Theatern seine gestaltende Kraft auf das
höchste Maß zusammen. Die zehn Jahre von Gustav Mahlers Direktionsführung in der
Oper haben in uns alle den unzerstörbaren Trieb gesenkt, von der darstellenden
Kunst immer das Höchste zu fordern; wir hatten außerdem noch in Kainz den
idealen geistigen Schauspieler, in Rosé und Busoni vollendete Protagonisten der
Musik.
An solchen vollendeten Massen gemessen, musste dann die Universität - ich
studierte Philosophie und Germanistik - eng und trocken erscheinen. Ein Semester
in Berlin (wo ich damals im Kreise Peter Hilles und der letzten "Kommenden"
verkehrte) gab mehr Anregung, aber im Ganzen danke ich der akademischen
Hochschule nichts. Mit dreiundzwanzig Jahren hatte ich, ein Jahr nach Otto
Meininger, dem ich ab und zu im Hörsaale begegnete, und gemeinsam mit meinem
Freunde Erwin Guido Kolbenheyer, das Doktorat erledigt, zu meiner Freude blieb
mir das lästige Freiwilligenjahr erspart; so war ich dem Leben frei.
Stefan Zweig im Alter von ca. 23 Jahren als Student in Wien © arquivo Casa
Stefan Zweig
Damals, mit dreiundzwanzig Jahren, hatte ich bereits einen Gedichtband "Silberne Saiten", einen Novellenband "Die Liebe der Erika Ewald", eine Ausgabe Paul Verlaines (drei Bücher, die ich nie mehr neu auflegen ließ) und viel in Zeitschriften veröffentlicht, wurde in engeren Kreisen recht bekannt und bekam sogar den Bauernfeldpreis. Meine Eltern waren für jene Zeiten sehr vermögend, so wurde ich nicht in einen Beruf gedrängt und konnte mich ganz meinen literarischen Neigungen widmen. Nun muss ich aber, um aufrichtig und richtig mein Leben zu schildern, einen merkwürdigen Widerspruch der Erinnerung und der Tatsachen verzeichnen, der wohl manchem innerlich mit mir gemeinsam sein mag. Wenn ich an meine Jahre zwischen achtzehn und dreißig zurückdenken will und mir vergegenwärtigen, was ich damals tat, so scheint es mir, als ob ich diese ganzen Jahre einzig in der Welt herumgereist, in Kaffeehäusern gesessen und mit Frauen herumgezogen wäre. Mit bestem Willen kann ich mich nicht erinnern, jemals gearbeitet, jemals etwas gelernt zu haben. Dem aber widersprechen die Tatsachen: schließlich habe ich damals eine Reihe Bücher geschaffen, einige Theaterstücke, die fast auf allen Bühnen Deutschlands und im Auslande gespielt wurden, habe Sprachen gelernt und viel, ja unendlich viel gelesen und geschrieben. Merkwürdigerweise kann ich mich aber da der Einzelheiten kaum erinnern, ich wüsste nicht, ohne nachzusehen, auch nur ungefähr zu sagen, wann ich zum ersten Male im Burgtheater zu Worte kam (was doch sonst für einen Wiener Dichter ein Erlebnis ist), oder wer diese oder jene Rolle in München oder Dresden spielte, und das bestätigt mir das früh schon deutliche Empfinden, dass mir die Literatur nicht Leben, sondern eine Ausdrucksform des Lebens war. Meine Leidenschaft war immer auf das Ganze des Lebens gerichtet: ich habe der Literatur nie etwas geopfert, sie war für mich nur - ich schäme mich gar nicht, es zu sagen - eine Steigerungsform der Existenz, eine Art, das Erlebte zu verdeutlichen und mir selbst zu verständlichen. Weit, voll, stark, wissend, meine Existenz zu gestalten, sie dem Wesentlichsten, dem Wirklichsten zu verbinden, war mein leidenschaftlicher Trieb. So bin ich durch zehn Jahre, statt mich um meine Stücke und Bücher zu kümmern, ununterbrochen durch die Welt gefahren, ich habe ein Jahr in Paris gelebt, kameradschaftlich jenem Kreise, der heute in Frankreich zu Ruhm gekommen ist, im Kreise Duhamels, Romains, Bildrats, ich war fast jeden Sommer in Belgien bei meinem väterlichen Freunde Émile Verhaeren, ich habe lange in Rom und Florenz gelebt (mit Ellen Key damals und jungen Skandinaviern), ich war in Spanien, Schottland, England, in der Provence, drei Monate in Amerika, Kanada, auf Kuba, in Mexiko, dann ein anderes Jahr in Indien, Ceylon und an der Südgrenze Chinas, ich war in Afrika und bin so allmählich Europäer geworden. Noch heute kann ich in Paris, in Berlin wie in Rom und Prag vom Bahnhof ohne Führung jede Straße finden, habe überall Beziehungen, Freunde und Gefährten, ein Gefühl dies, das mich eigentlich mehr beglückt, als irgendein Stolz auf Bücher oder literarische Leistung. Alle diese Reisen habe ich ohne jeden äußeren Zweck unternommen und nie darüber reportiert: sie entsprachen nur dem innern Bedürfnis, alles zu kennen, das mich auch in den verschiedenen neuen Kunstformen immer so anteilsam machte, einer ungeheuren, unruhigen und fast schmerzhaften Lebensneugier, die mich auch in andrer Beziehung bis ins Abenteuerliche hinein verlockt hat.
Stefan Zweig in Uniform im Kriegsarchiv um 1916 © arquivo Casa Stefan
Zweig
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Nach dem Kriege bin ich dann in das verstümmelte, verhungerte Österreich
zurückgekehrt, aber nicht mehr nach Wien, nicht mehr in meine alte Existenz. Ich
habe mich nach Salzburg zurückgezogen, habe geheiratet, ein Garten vor dem Haus
ersetzt mir die oft durchfahrene Ferne, zu der ich nur selten mehr den Weg
finde. Die Arbeit, einst bloß Auswirkung, gleichsam Radius des Lebenskreises,
ist jetzt das Zentrum geworden und ich wünschte nur, dass sie seitdem das an
Wert gewonnen habe, was ich ihr jetzt mehr an Intensität von meinem Leben gebe.
Ich selbst habe über meine Bücher und Werke nie eine Wertung versucht. Ich gebe,
soviel ich kann - wieviel es taugt, das zu werten, steht mir nicht zu. Wichtig
und als Verpflichtung dagegen empfinde ich dasjenige, was meiner Natur besonders
zu eigen ist, das Bindende, Verbindende und Komprehensive, das durch die
europäische Form meines früheren Lebens, durch vielfache Welterfahrung und
Freundschaft auch jenseits Deutschlands wirksam werden konnte, bewusst und tätig
auszubauen, um selbst an dem Wiederaufbau der alten europäischen Gemeinschaft
mitwirken zu können und eine Isolierung zu verhindern, die Deutschland ebenso
verhängnisvoll wäre wie seinen Gegnern. In seiner Kunst kann man sich durch
bloßen Willensakt nicht steigern, wohl aber in seiner moralischen Haltung, in
seiner Tätigkeit und hilfstätigen Leidenschaft: hier sehe ich eine Aufgabe, die
mir durch Natur und Schicksalsführung ganz besonders gestellt ist und ich habe
dadurch die Beruhigung, dass meine literarische Leistung, wenn sie nicht in sich
selbst bedeutend genug sein sollte, im solidarischen Sinne jedenfalls eine
nützliche sein kann und im Unsichtbaren vielleicht noch stärker wirken als in
der bloßen sachlichen Erscheinungsform der Bücher und der Bühne.